Über uns die Sterne

Foto: WeG
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Zeig mir deine Angst

Zehn Jugendliche in einem Camp im Wald. Pfadfinder, möchte man meinen, doch was diese Jugendlichen finden, sind bestenfalls Pfade, die mitten in ihre eigenen Ängste führen. Und die Ängste der anderen. Finden sie auch Wege, mit diesen Ängsten umzugehen?

Gleich zu Beginn hält das Publikum den Atem an, Anspannung, gelegentlich unterbrochen von Kichern – ein allzu menschlicher Reflex, um Angst zu überspielen. Denn durch die dunkle Kulturmulde, mitten durch die Zuschauenden, schleichen, schlängeln und kriechen düstere, fratzenhafte Gestalten. Manchem atmen sie direkt in den Nacken, anderen streichen sie am Rücken vorbei, um sich auf der Bühne in zehn junge Menschen zu verwandeln. Doch die „Angstmän“ bleiben präsent, ihre Fratzen hängen an Fleischerhaken auf der Bühne und starren mit leeren Augen aufs Geschehen.

Hier beginnt die Handlung mit der Ankunft im Camp gegen die Angst: ohne Betreuer, mitten im Wald, ein Wochenende auf sich allein gestellt wollen die Jugendlichen sich beweisen, dass sie keine Ängste haben, jedenfalls keine, mit denen sie nicht klarkämen. Manche sind freiwillig hier, andere nicht. Die einen mit großer Klappe und Coolness ausgestattet, andere mit Scharfsinn, aber wenig physischer Stärke, eine wirkt völlig unberührt und unberührbar, einer übereifrig und naiv, auch ganz vernünftige Köpfe scheinen versammelt zu sein. Sie sitzen also zusammen fest, teilen sich Zelte, Essen und Probleme. Es dauert nicht lange, und die Gruppendynamik nimmt ihren unheilvollen Lauf. Die Jugendlichen reden, diskutieren, protzen, wollen dominieren, vermitteln oder einfach nur weg. Die vermeintlich Starken übernehmen schnell die Führung, wer nicht mitmacht, fliegt raus. Vielleicht eine der größten Ängste, nicht nur für junge Menschen: isoliert sein, allein dastehen, alle anderen gegen sich haben. Also doch lieber mitmachen und den „Schutz“ der Gruppe genießen? Unerwartet schnell eskaliert das Geschehen, nach dem sogenannten „Ohnmachts-Spiel“ liegt eine von ihnen bewusstlos am Boden. Oder ist sie vielleicht…? Wieder Angst, nackte Panik. Die Masken fallen, die wahren Stärken zeigen sich, die Rollen der Ausgestoßenen werden neu besetzt. Am Ende gibt es keine Gewinner in diesem Spiel – oder haben alle gewonnen?

Was die zehn Spieler*innen der Jahrgangsstufen 10 bis 12 unter der Spielleitung von Marco Graša und Philipp Keller (JG 12) auf der Bühne umsetzten, ging weit über das „Aufführen eines Theaterstücks“ hinaus. Die intensive, interdisziplinäre Vorbereitung mit bildnerischer, literarischer, choreografischer und dramaturgischer Annährung an das herausfordernde Thema „Angst“ war deutlich zu spüren. Souverän und präsent zeigten die Darsteller*innen die vielen Gesichter der Angst, die Dynamik des Geschehens wirkte beängstigend authentisch. Auch an den Stellen, an denen der Text im Spiel etwas unterging, bestand keine Gefahr, der Handlung nicht folgen zu können. Sparsam, aber bewusst gesetzte Licht- und Soundeffekte rundeten die beeindruckende Inszenierung ab.

Und wie ist es nun – gibt es „Sieger“ in diesem Spiel mit der Angst? Darum geht es letzten Endes nicht. Denn für die zehn Jugendlichen es gab nie ein Ziel, nur einen Weg: den durch die eigenen Ängste. Ob sie diese überwunden haben, bleibt weitgehend offen, sie nehmen sie alle wieder mit, die Masken ihrer Ängste. Kriechend, schlängelnd, schleichend, auf demselben Weg, wie sie gekommen sind, verschwinden sie auch wieder… zumindest für eine Weile.

 

Silke von Fürich

Letzte Änderung am 21.04.2023 von R. Kiesel